Selbstfindung einer Agglomeration

Es war eine vielsagende Szene: Bei der Präsentation der FDP-Kantonsratskandidaten galt es die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten, ob die umliegenden Gemeinden inklusive Gossau nicht mit der Stadt St. Gallen fusionieren sollten. Die Frage beantworten musste als FDP-Kantonsrat auch der St. Galler Stadtpräsident. Thomas Scheitlin entschied sich für ein Ja, um später zu betonen: «So etwas müsste natürlich von unten wachsen!»

Auch wenn Scheitlin noch mehrfach wiedergewählt werden sollte: In seine Amtszeit als Stadtpräsident dürfte diese Arrondierung der Stadt nicht fallen. Der Sprung auf 100 000 Einwohner, den die Vergleichsstadt Luzern gerade geschafft hat, ist in der Ostschweiz noch kein Traktandum. Das bedeutet: Für jedes grössere Projekt wird man sich noch längere Zeit erst einmal über Grenzen hinweg zusammenraufen müssen. Die Grossstadt St. Gallen gibt es noch nicht.

Aber die Agglomeration St. Gallen? Das Jahr 2007 hat in der Region vieles in dieser Richtung in Bewegung gebracht. Gleich auf drei Baustellen wird die Idee Agglomeration vorangetrieben. Die drei Plattformen sind unabhängig voneinander entstanden, in Workshops und an Versammlungen trifft man aber stets die gleichen Leute aus den gleichen Orten. Das vielleicht wichtigste Ergebnis aller Planspiele: Überall entstehen fast kongruente Bilder dessen, was die Agglomeration St. Gallen sein soll. Bei allen noch bestehenden Unschärfen und Differenzen scheint doch klar, dass die Bezeichnung Agglomeration für ein Gebiet mit den Eckpfeilern Arbon, Rorschach, Herisau und Gossau steht. Ein Gebiet, das sich mit der Stadt St. Gallen auf ein unbestrittenes Zentrum hin orientiert.

Nun aber folgt das Jahr der Bewährung. Für die Vereinigung der Gemeinden der Region St. Gallen gilt es, die selbst gestellten delikaten Fragen ehrlich zu beantworten. Gehört etwa Urnäsch tatsächlich zur Region St. Gallen? Und müsste nicht Rorschach endlich dazugehören?

Knochenarbeit. Die Antwort lässt sich nicht nur statistisch ergründen. Sonst landet man unweigerlich auf dem Glatteis jener «weichen Faktoren», die etwa bei geplanten Gemeindefusionen zu einem Nein aus dem Bauch heraus führen. Wer mag es den Rorschachern verübeln, dass sie an ihrer heutigen eigenen Regionalplanungsgruppe, die den Namen Rorschach im Titel trägt, hängen? Und wenn die Urnäscher sagen, sie gingen «in die Stadt» und damit St. Gallen meinen, wieso sollten sie aus einer Vereinigung hinaus komplimentiert werden? Trotzdem wird sich die Vereinigung nicht vor der Beantwortung der Fragen drücken können, will sie in Zukunft die Agglomeration massgeblich mitgestalten. Eigentlich ist auch das eine Frage: Welche Aufgaben die St. Galler Regionalplanungsgruppe künftig haben soll, wird diskutiert.

Klar scheint die Aufgabe des neuen Players auf dem Agglo-Spielfeld. Die IG Standortmarketing St. Gallen hat aber noch nicht die Ausdehnung der Agglomeration erreicht. Die Idee, dass ein Standortmarketing für St. Gallen auch ausserhalb der Stadt Früchte trägt, scheint langsam zu reifen.

Der Bund muss sich nicht um Gefühle der Regionen kümmern; das Agglomerationsprogramm mit dem sperrigen Zusatz «St. Gallen/Arbon-Rorschach» umreisst das Gebiet nach statistischer Logik. Das Bild mit den «Subzentren» Arbon, Rorschach, Herisau und Gossau stimmt – dass einige ausgeklammerte kleinere Gemeinden die Logik anzweifeln, ist aber nachvollziehbar. Die so definierte Agglomeration muss funktionieren: Sie ist das Vehikel, um an die für Infrastruktur-Projekte reservierten Milliarden des Bundes zu kommen. Was das eingereichte Programm wert ist, wird sich weisen. Spannend war der Entstehungsprozess: Nicht nur die beteiligten Gemeinden, sondern auch die drei Kantone St. Gallen, Thurgau und Appenzell Ausserrhoden mussten sich in raumplanerischen Fragen auf gleiche Antworten einigen.

Auch wenn diese Antworten noch nicht spektakulär sind, wird hier doch eine neue Perspektive eingebracht. Es wird versucht, das gemeinsame Wohl über Partikularinteressen zu stellen. Genau an diesen droht der Versuch aber zu scheitern. Die Erkenntnis, dass von diesem Ansatz letztlich alle profitieren könnten, muss sich erst noch durchsetzen. Insbesondere bei Gemeinden, die als erstes Verzicht üben sollten, ist das Vertrauen, zu den Partnern nicht sonderlich stark ausgeprägt.